Die Anklage der Generalstaatsanwaltschaft Dresden gegen ehemalige Unister-Verantwortliche liest sich wie ein Lehrbuch für das Optimieren von Flugtickets, sprich dem Runterbuchen. Mit erstaunlicher Detailversessenheit haben die Ermittler die gängigen Varianten des Runterbuchens zusammen getragen. Was die sächsischen Ankläger in einem bemerkenswerten Gerichtsprozess für strafbar halten, bezeichnen namhafte Zeugen nun als branchenüblich. Was stimmt? Antworten für alle, die Flugtickets vermitteln oder verkaufen.
Komprimiert
Das Thema Runterbuchen im Flugvertrieb ist sehr komplex, die Anklage der Generalstaatsanwaltschaft Dresden gleichfalls. Unister-Gründer Thomas Wagner hat bis zu seinem Tod darauf gewartet, sich für den Vorwurf des Runterbuchens rechtfertigen zu können. Seine Verteidigung wäre wertvoll für den gesamten Reisevertrieb gewesen, da hier elementare Grundregeln der Ausstellung von Flugtickets in Frage gestellt werden. Diese Aufgabe müssen nun andere ausfüllen.
Mit Akribie hat sich die Dresdner Oberstaatsanwaltschaft seit dem Jahr 2013 ermittelnd in das Thema Runterbuchen eingearbeitet. Dennoch zeigt in dem seit Januar laufenden Mammut-Prozess gegen drei ehemalige Unister-Manager die Lernkurve offenbar deutlich nach oben. Das Wort von der „Branchenüblichkeit“ macht nun im Zeugenkreis die Runde, zuletzt gestern vom ehemaligen DRV- und BTW-Präsidenten Klaus Laepple. Dass er sich die Mühe macht, die hier Angeklagten und posthum Unister-Gründer Thomas Wagner zu entlasten, ist aller Ehren wert. Denn andernfalls, so schreibt es die Leipziger Volkszeitung, das Urteil könnte die gesamte Reisebranche aufmischen.
Das Thema Runterbuchen wurde erst im Februar 2016 zur Anklage gebracht Anders als die bereits im Dezember 2013 veröffentlichten Anklagepunkte zu Streichpreisen (vom Landgericht nicht zur Hauptverhandlung zugelassen) sowie des steuerrechtlichen Status ehemaliger Umbuchungsservices konnte sich der verstorbene Firmengründer Thomas Wagner zu diesem Punkt kaum mehr öffentlich äußern. Er war bis zuletzt in allen Anklagepunkten von seiner Unschuld überzeugt.
Was die Dresdner Staatsanwälte Dirk Reuter und Marcus Leder zum Prozessbeginn am 11. Januar quasi unter Ausschluss der Fachöffentlichkeit (mit Ausnahme des Autors dieses Textes) als Anklage verlesen haben, ist ein wahrhaft nutzwertiges Lehrbuch für den Flugvertrieb. In bemerkenswerter Detailversessenheit listen sie die Varianten des Runterbuchens auf, erklären branchenübliche Tools zur Ticketoptimierung. So detailgenau ihre Arbeit an dieser Stelle, so knapp ist ihre daraus folgende strafrechtliche Würdigung.
Die Ankläger gehen von der noch zu beweisenden Annahme aus, Unister sei im Rahmen eines angeblichen Geschäftsbesorgungsvertrages als Reisebüro gegenüber den Kunden dazu verpflichtet, mit seinen Kunden die Konditionen für die Beschaffung der Airline-Tarife stets abzustimmen. Wen dem so wäre, dürften sich wohl zahlreiche Online-Portale, Geschäftsreisebüros und klassische Reisebüros auf kritische Nachfragen einstellen. Und ein paar andere Branchen, in denen ohne Rücksprachen mit dem Kunden Einkaufsvorteile erzielt werden, sinngemäß auch.
Touristiker, die in der Anklage kriminalistische Handlungen erster Güte erwartet haben, dürfen je nach persönlichem Standpunkt durchatmen oder enttäuscht sein. Denn:
Worum geht es NICHT in dieser Anklage?
- Es gibt und gab bei Unister keine konkret formulierten Vertragsklauseln (etwa in den AGB), wonach Kunden die Erlöse aus der Ticketoptimierung explizit zustehen.
- Es werden in der Anklage keine Strafanzeigen von Kunden aufgeführt, die sich durch die Ticketoptimierung benachteiligt gefühlt haben. Und das obwohl die Generalstaatsanwaltschaft Dresden zahlreiche Kunden hierauf hingewiesen hat.
- Mehr noch: ein über den geminderten Ticketpreis hinausgehender Schaden des Kunden durch das Runterbuchen ist nicht Bestandteil der Anklage. Dort geht es eben nicht um mutmaßlich schlechtere Leistungen, die durch unumsichtiges Runterbuchen durchaus entstehen könnten. Die Frage, ob ein Kunde hier etwa schlechtere Tarifbestimmungen (Umbuchungs- und Stornofristen) oder geringere Zusatzleistungen (weniger Freigepäck, eingeschränkter Service, Meilengutschriften) erhalten hat, wird in der Anklage schlichtweg nicht behandelt.
- Die Anklage richtet sich auch nicht um potenzielle Schäden bei Fluggesellschaften, die durch das Runterbuchen verursacht werden. Unstrittig ist, dass die nachträgliche Anpassung oder Neuausstellung eines Flugtickets zu Lasten der Airlines geht. Ihr Erlös mindert sich dadurch.
Worum geht es im rechtlichen Sinne?
Umfassend baut die Generalstaatsanwaltschaft ein komplexes Konstrukt aus Travel-Technologie und zivilrechtlicher Deutung auf. Das Fazit in aller Kürze:
Die „Manipulation von Tickets“, wie es in bedingt neutraler Amtssprache heißt, sieht die Staatsanwaltschaft offenbar als Verstoß gegen einen angeblichen Geschäftsbesorgungsvertrag, den der Kunde mit dem Portal geschlossen habe. Unstrittig ist dabei, dass Reisebüros gegenüber dem Kunden im weiteren Sinne als Mittler auftreten und von diesem für ihre Dienste in Ermangelung einer Provision – anders als bei Pauschalreisen – ein Service-Entgelt verlangen. Der Luftbeförderungsvertrag jedoch wird stets zwischen Leistungsträger und Kunden geschlossen.
So geht die Anklage offenbar davon aus, dass das Runterbuchen des Reisebüros eine Auflösung des ursprünglichen Luftbeförderungsvertrages zwischen Airline und Kunde ohne Einwilligung des Kunden ist. Dabei geht sie nicht auf den Fakt ein, dass die angebotene Leistung zu den zuvor angezeigten Konditionen tatsächlich erhalten hat.
Die strafbare Würdigung baut auf diesem zivilrechtlichen Vehikel auf. Der teilweise Einsatz von Software in diesem Prozess unter Einsatz unrichtiger Daten soll den Straftatbestand des Computerbetrugs erfüllen. Denn der Kunde, so die Perspektive der Anklage, habe Unister nur zur Abbuchung in Höhe des zu zahlenden Flugpreises nebst Gebühren ermächtigt. Daraus erbe sich ein „rechtswidriger Vermögensvorteil“. Der Rest ist simpel, mehr als zwei Angeklagte sind per Gesetz eine Bande. Die Gewerbsmäßigkeit ihres Vorgehens steht außer Frage.
Fertig ist der Vorwurf des banden- und gewerbsmäßigen Computerbetrugs.
Was heißt das nun für den Reisevertrieb?
Sollte sich diese Rechtsmeinung durchsetzen, steht der globale Reisevertrieb vor erheblichen Herausforderungen. Während Finanz- und Zivilgerichte die darauf in der Anklage aufbauende Fragen der angeblich fehlerhaften Besteuerung von Service-Entgelten in der Anklage (nämlich Abhängig nach der Flugstrecke und ihres Anteils in deutschem Luftraum) zumindest in relevanten Teilen zu Gunsten von Unister geklärt haben, ist die Rechtsmeinung, eine Anpassung von Flugtarifen sei ein Vertragsbruch des Reisebüros gegenüber dem Kunden, juristisches Neuland.
Unister hat alle Varianten des Runterbuchens im Sinne der Anklage mit Bekanntwerden der strafrechtlichen Vorwürfe Ende 2013 eingestellt. Die daraus resultierenden Mindereinnahmen können neben dem massiven Reputationsverlust insbesondere auf den Kapitalmärkten ein Grund für den wirtschaftlichen Niedergangs der Unternehmensgruppe zu sein.
Die Varianten des Runterbuchens laut Anklage:
Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hat bei ihrer Anklageverlesung tatsächlich zahlreiche Varianten der Ticketoptimierung zusammen getragen. Ticketaussteller, die sich einer dieser Varianten bedienen, sollten spätestens jetzt hellhörig werden. Spätestens hier sollte Touristikern klar werden, weshalb das unschöne Wort der „Branchenüblichkeit“ die Runde macht.
Denn um nichts anderes als dies geht es vor dem Landgericht Leipzig:
- Preismonitoring / Autopricing:
Hier nutzt ein Reisebüro ein branchenübliches Tool zum Preismonitoring (Autopricing) wie Amadeus Best Pricer oder Sabre Air Price, um den tagesaktuell besten Tarif im Rahmen der Ausstellungsfristen zu ändern oder diesem im Rahmen der Umbuchungs- und Stornofristen neu anzulegen. Dieser Vorgang ist auch manuell ohne technische Hilfe möglich. - Nutzung von „Unpublished Fares“:
Die Staatsanwaltschaft spricht in ihrer Anklage von „für den Vertrieb über Internet-Portale nicht zugelassener Tarife“. Diese Darstellung ist, neutral formuliert, grob vereinfacht. Korrekt ist, dass es neben den von den Airlines veröffentlichten Tarifen eine Reihe weiterer so genannter Nego und Netto Fares, die beispielsweise über Ticketgroßhändler (Consolidator) oder Veranstalter weiterverkauft werden. Einige dieser Tarife sind an Restriktionen gebunden. Die Staatsanwaltschaft kritisiert, dass im Rahmen des Runterbuchens öffentliche Tarife (published) in entsprechende Unpublished Fares gewandelt worden sind. - Nutzung von Tour-Operator-Fares:
Ein Sonderfall sind so genannte Tour Operator Fares, die Airlines in ihren Ticketbestimmungen nur in Verbindung mit einem Reisearrangement zur Buchung vorsehen. Die technisch in den GDS-Systemen quasi ungehemmt mögliche Nutzung dieser Tarife jenseits des Veranstaltergeschäfts hat jedoch in der Anklage keine weiterführende strafrechtliche Würdigung erhalten. Ein Schaden gegenüber dem Kunden ist durch die Nutzung etwaiger TOP-Tickets nicht hergeleitet. - Änderung des Ausstellungsortes (Office-ID-Switch):
Airlines bieten ihre Flugtarife in unterschiedlichen Märkten zu teilweise unterschiedlichen Preisen an. Soweit ein Ticketaussteller in diesen Märkten zugelassen ist, kann er unter der jeweiligen Office-ID dieses Landes diese Tarife einbuchen. - Wechsel des GDS (Multi-GDS:)
Mit Amadeus, Sabre und Travelport teilen sich drei globale Vertriebssysteme (GDS) den Großteil des Flugvertriebs. Zwar hat das Trio mit zahlreichen Airlines Full-Content-Agreements abgeschlossen, dennoch kann es in Einzelfällen zu Preisunterschieden in den Datenbanken dieser GDS kommen. Auch der simple Wechsel des GDS wird von den Staatsanwälten gerügt. Eine Multi-GDS-Technologie, die Reisebüros unabhängig von eben nur einem Technologiepartner macht, ist längst branchenüblich. - Kreatives Ticketing:
Die komplexen Tarifsysteme zahlreicher Airlines führen dazu, dass in Einzelfällen die Ausstellung durch kreatives Ticketing zu günstigeren Tarifen führen kann. So kann für einen Hinflug die Hinzubuchung eines Rückfluges günstiger sein als das offizielle One-Way-Ticket. Die Staatsanwaltschaft nennt dies „Return-RUB“. Denkbar ist auch, dass die ursprüngliche Flugstrecke um einen Anschlussflug ergänzt wird, der nicht angetreten werden muss. Analog können sowohl Hin- und Rückflug jeweils als Return-Ticket ausgestellt werden, von denen der Kunde dann jeweils nur das erste Segment nutzt.
Inzwischen haben sich zahlreiche Schnäppchen-Portale auf das promoten derartiger Fares spezialisiert. Wer nach „Wurmflug“ googlet oder auf der hinter dem so gennanten Return-RUB stehenden Weekend-Rules vieler Airlines (besonders günstige Return-Angebote für Freizeitreisende über das Wochenende), der wird zudem sehen, dass all dies keine Erfindung von Thomas Wagner oder der hier nun angeklagten ehemaligen Mitstreiter ist.
Update: 4. Dezember 2017: Das Landgericht Leipzig hat heute laut ersten Medienberichten für das hier beschriebene „Runterbuchen“ im Sinne der Anklage Bewährungsstrafen in zwei Fällen ausgesprochen. Zwar blieb das Gericht damit unter den Forderungen der Staatsanwaltschaft, dennoch muss nun die Urteilsbegründung detailliert ausgewertet werden. Das Urteil ist für für sich genommen für mich weder nachvollziehbar noch erklärbar. Gleiches gilt auch für die Arbeit der Generalstaatsanwaltschaft Dresden in diesem Fall. In einer Petition fordere ich mit vielen weiteren Zeichnern die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses im Sächsischen Landtag.
Disclaimer: Der Autor dieses Textes war von Dezember 2014 bis September 2016 für die Kommunikation von UNISTER Travel sowie später auch der UNISTER Holding verantwortlich und in die Vorbereitung der Strafverteidigung des Unternehmens eng eingebunden. Die Beteiligung des Unternehmens an diesem Strafverfahren wurde in der Insolvenz beendet.
Dieser Text dient der vielfach gewünschten Aufklärung der Reiseindustrie. Er beruht ausnahmslos auf öffentlich verfügbaren Quellen und eigener Analyse und beschäftigt sich ausschließlich mit dem Thema Runterbuchen im Sinne der Anklage. Er gibt auch nicht umfassend die Meinung des Autors über das Vorgehen der Generalstaatsanwaltschaft Dresden gegen Unister und seiner ehemaligen Manager wieder, die er mit dem stets gebührenden Respekt vor der Arbeit des Gerichts bis auf weiteres für sich behält.
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Der bis zum Prozessbeginn mit Respekt vor dem Gericht nur punktuell vorgetragene öffentliche Standpunkt der nunmehr in Insolvenz befindlichen UNISTER Holding, ihrer hier ehemals involvierten Tochtergesellschaften und ihres verstorbenen Geschäftsführers und Gründers Thomas Wagner zum jeweils genannten Zeitpunkt finden Sie unter anderem in folgenden Pressemeldungen:
- Factsheet zur Anklage der Generalstaatsanwaltschaft Dresden (Stand: 3. März 2016)
- Unister-Gründer Thomas Wagner ist nicht zum Deal mit der Justiz bereit (16. Februar 2016)
- Landgericht weist wesentliche Vorwürfe der Staatsanwälte zurück (10. März 2016)
- Erstes Ergebnis: Keine strafbare Werbung bei Unister (28. April 2016)
Beitragsfoto: Foto: Wikimedia Commons / L.E. rewi-sor